Herr Hegenbarth zeigt

Bodo Rott, Hahnenklage (zu Johann Wolfgang Goethe: Reineke Fuchs), 2018, Tusche, Deckweiß, Ruß auf Papier, 70 × 50 cm (Detail), © Hegenbarth Sammlung Berlin / Bodo Rott

Hegenbarth trifft Gegenwart

Bodo Rott. Knittriger Horizont
oder Der Fuchs im Maisfeld

26. Juni 2021 — 05. Juni 2022

Ort:

Herrenhaus auf Gut Hohen Luckow
Rostocker Straße 23
18239 Hohen Luckow
www.guthohenluckow.de

Presseinformation

Finissage in Anwesenheit des Künstlers

Samstag, 4. Juni, und Pfingstsonntag, 5. Juni 2022
jeweils von 9 bis 16 Uhr

Beide Ausstellungen — die Illustrationen Illustrationen zu ›Reineke Fuchs sowie die Gemälde und Bildinstallationen von Bodo Rott — sind geöffnet. Es finden stündlich Führungen durch Sammlungen, Salons und Rittersaal statt.

Der Eintritt ist frei, der Zugang ist barrierefrei.

Bodo Rott (Artist in Residence 2021) im Gespräch mit der Kunsthistorikerin Katja Schöppe-Carstensen (Hegenbarth Sammlung Berlin) über die Ausstellung und seine Illustrationen zu Goethes ›Reineke Fuchs‹ (Dauer: 25 min)

Bodo Rott on AiR im Maisfeld

Unter dem Dach der Familienstiftung Ruth Merckle veranstalten die Hegenbarth Sammlung Berlin und Gut Hohen Luckow zum dritten Mal gemeinsam das Programm Artist in Residence (AiR). Der Ort Gut Hohen Luckow vereint seit drei Jahrhunderten Landwirtschaft und Kultur. Letztjähriger Gast war Bodo Rott (*1971), mit dem die Hegenbarth Sammlung seit Jahren verbunden ist. Seinen Aufenthalt nutzte der Berliner Künstler insbesondere zur Erarbeitung Bildzyklus ›Reineke Fuchs‹ zum gleichnamigen Tierepos von Johann Wolfgang Goethe (1749—1832).

Seit März 2021 schuf Bodo Rott in und um Gut Hohen Luckow eine ganze Reihe von Arbeiten. Hier hielt er sich für mehrere Wochen auf, um in der ihn umgebenden Kulturlandschaft etwas südlich von Heiligendamm und Rostock zu leben und zu arbeiten. Der künstlerische Schaffensprozess war indes damit nicht abgeschlossen: Die Gäste der täglich geöffneten Ausstellungshalle im Tiefpatrerre, der Mecklenburger Diele, im Herrenhaus von Gut Hohen Luckow wurden — pandemiebedingt im Verlauf eines ganzen Jahres — Zeugen einer sich stetig weiter entwickelnden Werkserie.

Im Zentrum stehen die Ränke und die manipulativen Reden des Reineke Fuchs in Johann Wolfang Goethes (1749—1832) gleichnamigen Versepos. Zeigen Bodo Rotts Illustrationen einerseits eine zeitgenössische künstlerische Rezeption, hat andererseits dieses Stück Weltliteratur durch Goethe eine moderne, aufklärerische Zuspitzung erfahren. Bodo Rotts Vorhaben trifft bei der Hegenbarth Sammlung Berlin auf offene Türen: Sie forscht und publiziert einerseits zur Bedeutung der künstlerischen Illustration auf Grundlage der eigenen umfangreichen Bildbestände; andererseits fördert sie in der Reihe ›Hegenbarth trifft Gegenwart‹ den Dialog zwischen Josef Hegenbarth (1884—1962) und heutigen Künstlern.

Etwa acht weitere großformatige Grafiken sowie raumgreifende Gemälde und Bildinstallationen waren für die Dauer eines Jahres auf mehreren Etagen in die historische Ausstattung des Herrenhauses eingebettet. Sie wurden für oder auf Hohen Luckow geschaffen und waren während der im Verlauf der Saison stattfindenden Veranstaltungen öffentlich zugänglich. Mit der Finissage am Pfingsfest 2022 endet die nunmehr dritte AiR-Ausstellung auf Gut Hohen Luckow. Der oder die nächste Artist in Residence wird dort voraussichtlich 2025 im Hinblick auf die Bundesgartenschau in Rostock arbeiten.

Reineke Fuchs — literarisches Tierepos und Lehrstück menschlicher Abgründe

Seit dem hohen Mittelalter wurde der aus dem Französischen stammende, beliebte Stoff immer wieder nachgedichtet. Grundlage für alle deutschsprachigen Fassungen ist die niederdeutsche Fassung ›Reynke de vos‹, so der Titel der 1498 von Hans van Ghetelen in Lübeck gedruckten Inkunabel. Johann Wolfgang Goethe (1749—1832) übertrug dieses gesellschaftliche Lehrstück über menschliche Verführungen und Verführbarkeit in Gestalt tierischer Protagonisten in eine leichtfüßige und doch eigenwillige Versform. Es erschien nach knapp einjähriger Bearbeitung 1794 und zählt bis heute zu den Klassikern der deutschen Literatur. Unter all den bekannten Bearbeitungen dieses Stoffes hat sich Goethes Versepos in seiner Zeitlosigkeit durchgesetzt. Wie aktuell die Brisanz der Charaktere und ihrer Verstrickungen ist, lässt sich mit Blick auf unsere Gegenwart durchaus feststellen. ⇒ Zur Nachlese siehe vollständige Ausgabe online unter projekt-gutenberg.org

In zwölf Gesängen werden die wiederholten Täuschungsmanöver Reinekes geschildert, in welche sich die anderen Tiere des Reichs nach und nach verstricken. Aus Furcht vor seinen zahlreichen Anklägern kommt Reineke Fuchs erst nach mehrmaligen Aufforderungen zum Hoftag des Löwen Nobel, auf dem er zum Tod am Galgen verurteilt wird. Mit falschen Versprechungen gelingt es ihm im letzten Moment den macht- und geldgierigen König umzustimmen und seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Statt Reineke wandern nun seine Widersacher ins Gefängnis und dem listenreichen Fuchs gelingt die Flucht. Danach wird er zum zweiten Mal überführt und vor Gericht gestellt; doch abermals gelingt ihm die Rehabilitierung durch geschickte Rhetorik. Die Geprellten, allen voran der König und seine Berater, glauben sich nur noch durch ein ›Gottesurteil‹ von dem renitenten Schelm befreien können: Ein ungleicher Zweikampf auf Leben und Tod vor aller Augen soll den Fuchs zur Strecke bringen. Als Reineke selbst in dieser aussichtslosen Lage über seinen allzu selbstgewissen Gegner Isegrim triumphiert, begnadigt ihn König Nobel nicht nur: Reineke wird sogar zu seinem Stellvertreter ernannt und kann fortan sorglos leben.

Im Zentrum des Epos steht die Charakterfigur Reinekes, ein opportunistischer Hasardeur aber auch ein umsichtiger Stratege, dessen Trachten vorzugsweise auf das Wohl seiner Familie ausgerichtet ist. Goethe zeichnet diesen Charakter nicht eindimensional schlechter als seine anderen tierischen Verwandten: Ihre Mord- und Fresslust machen sie als Vorrecht des Standes oder der Stärke geltend. Indem der Fuchs seine Widersacher aus der Warte ihrer eigenen Ansprüche angreift, bricht er mit der gesellschaftlichen Ordnung. Ihren Repräsentanten hält er mit seinen Taten den Spiegel vor. Damit wird er zum Sympathieträger und Volkstribun. Gleichwohl hat Reineke keine blütenreine Weste, die er auch nicht nötig hat, um seine Taten mit einer ehrenwerten Maske zu bemänteln. Hinter dieser verbergen sich die gefährlichen Rivalen des Fuchses. Im Unterschied zu ihm glauben sie sich, der noble König eingeschlossen, im Einklang mit Recht und Ordnung, welche sie vorgeblich repräsentieren. Diese Illusion macht sie anfällig für die Manipulation. Dies ist das antithetische Prinzip, das Goethe in dramatischer Hinsicht nutzt und drastisch-lustvoll ausreizt: Reineke Fuchs ist immer eine Nasenlänge voraus, er ist der machiavellistische Politiker schlechthin, der Beste unter lauter Schlechten.

Reineke Fuchs — der Stoff aus dem die Illustrationen sind

Redende Gestalten und menschlich handelnde Tiere finden sich seit der Antike und reizten Künstler immer wieder zur Darstellung. In den Jahrzehnten nach Goethes Veröffentlichung illustrierten es zahlreiche Künstler als bürgerliches Unterhaltungsbuch. Dazu gehören unter anderem Johann Heinrich Ramberg (1763—1840), Ludwig Adrian Richter (1803—1884) oder Wilhelm von Kaulbach (1804—1874). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert lassen sich nur noch vereinzelt Künstler auf diesen Stoff ein, u.a. Max Slevogt (1896—1932), A. Paul Weber (1893—1980) oder auch Josef Hegenbarth (1884—1962), den die Hegenbarth Sammlung Berlin im Kontext des Zeichenhaften erforscht und gemeinsam mit Künstlern der Gegenwart ausstellt.

Hegenbarth griff diesen Stoff mehrfach auf: erstmals 1923/1924, als er eine Mappe mit vierzehn Radierungen schuf. In den verschiedenen Phasen seiner Laufbahn schuf er seit den 1940er Jahren bis zu seinem Todesjahr 1962 über 780 Pinsel- und Federzeichnungen zu ›Reineke Fuchs‹ bzw. zu ›Reynke de vos‹. Im Besitz der Hegenbarth Sammlung befinden sich eine vollständige Illustrationsfolge mit 44 einfarbigen Pinselzeichnungen von 1944 sowie zwei weitere Federzeichnungen aus der Folge von 1949. Einige dieser Blätter ergänzen Bodo Rotts AiR-Ausstellung in Hohen Luckow für kurze Zeit.

Hegenbarths nur handtellergroße Zeichnungen der hinreißenden Folge von 1944 sind eindeutig als Buchillustrationen konzipiert. Sie sind extrem reduziert, was die äußeren Begebenheiten angeht, so als wolle er die Bilder, die Goethes Sprache vor dem geistigen Auge hervorruft, nicht konterkarieren. Sie sind gleichwohl äußerst vielsagend, was die dramatische Struktur und die psychischen oder charakterlichen Dimensionen betrifft. Hierbei ist Hegenbarth, gestützt auf jahrzehntelangen Beobachtungen, umwerfend präzise: Er gibt den Unter- und Zwischentönen der Dialoge ein Gesicht — halb Tier, halb Mensch. Hier ist er inhaltlich ganz bei Goethe, als zeichensetzender Künstler ganz bei sich.

Bodo Rott schlägt, soweit das jetzt schon absehbar ist, im Gegensatz dazu einen anderen Ton an. Er bringt seine Zeichnungen in Einklang mit der pseudoklassischen Metrik Goethes, indem er den dramatischen Verwicklungen mit den formsuchenden Wucherungen seiner Malerei nachspürt. Den inneren Bildern setzt er ›Schnipsel‹ konkrete Beobachtungen, die er in der Hof- und Kulturlandschaft rings um Hohen Luckow gemacht hat, gegenüber. Darin lässt er die Protagonisten als wilde Tiere wie in eine Parallelwelt ein. Eine wilde, gleichsam archaische Gesellschaft bemächtigt sich der ›höfischen‹ Umgebung, bezeichnenderweise ihrer abseitigen Plätze wie Viehwagen, Werkstätten, Silohalden oder Untergehölze, die der Künstler in seine Bühnenräume für Goethes Dichtung übersetzt. Auf das Prinzip seiner Malerei angesprochen, stellt Bodo Rott in einem Interview mit der Kunsthistorikerin Gun-Dagmar-Helke die der Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, die in der gemalten ›Schnipsel-Collage‹ in einer labilen Balance gehalten sind: »Malerisch dreht sich meine Arbeit ja um das, was scheint wie es nicht ist, um Nähe und Ferne zugleich […]. Das archaische Element, […], ist der Eindruck des Verstrickt-Seins. Das finde ich auch in der Spätgotik und frühen Renaissance wieder. Diese Epoche eines Scheitelpunktes interessiert mich. Wo ist das gekippt?«

Anhand dieser Überlegungen lässt sich nachvollziehen, aufgrund welcher mentalen, historischen und der formalen Dichte Bodo Rotts Inspiration geweckt wurde — Epochen des Scheitelpunktes sind im ›Reineke Fuchs‹ mehrfach enthalten: Die ›(Selbst-)Erlösung aus dem archaischen Verstricktsein‹ gilt als wesentliche mentale Triebfeder beim Übergang vom Spätmittelalter zur Neuzeit, stilgeschichtlich die Zeit der Spätgotik und frühen Renaissance, auf die Bodo Rott abhebt; historisch die Zeit der ersten gedruckten Reynke-Fassung an der Wende zum 16. Jahrhundert. Von diesem Thema des ›archaischen Verstricktsein‹ bleibt auch Goethes Bearbeitung durchdrungen, in der Schein und Sein kaum zu entwirren sind. Sie verweist damit umso deutlicher auf die Umbrüche in Goethes eigener Zeit — die französische Revolution und das Ringen der fortschrittlichen Kräfte mit der feudalen Ordnung: Reineke Fuchs, ein Thema in Umbruchzeiten.

Mit Blick auf Josef Hegenbarth kann der Vollständigkeit halber noch ein weiterer historischer Scheitelpunkt mitgedacht werden: Als die Illustrationen 1944 zu Papier gebracht wurden, stand die Welt in Flammen; an ein zivilisiertes Leben war nicht zu denken. Vor diesem Hintergrund gewinnt beides, Dichtung und Illustration, eine besondere Authentizität.

Park, 2019, Öl auf Tuch, 200 × 190 cm, © Familienstiftung Ruth Merckle / Bodo Rott, Foto: Alexander Rudolph
Park, 2019, Öl auf Tuch, 200 × 190 cm, © Familienstiftung Ruth Merckle / Bodo Rott, Foto: Andreas Gebhardt
Im Park mit Bodo Rott, © Familienstiftung Ruth Merckle / Foto: K.H.
Suppenterrine, 2021, Assemblage Öl auf Wabenkarton, 150 × 100 cm, © Bodo Rott, Foto: Alexander Rudolph
Stapelbild, 2021, Assemblage Öl auf Wagenkarton, 600 × 100 × 100 cm, © Bodo Rott, Foto: Alexander Rudolph
Familienbild, 2021, Öl auf Tuch, 130 × 110 cm, © Bodo Rott, Foto: Andreas Gebhardt
Vertikal kommt die Zukunft, 2019, Öl auf Tuch, 200 × 190 cm, © Bodo Rott, Foto: Andreas Gebhardt
Atelier im Turm, © Familienstiftung Ruth Merckle, Foto: Alexander Rudolph

Öffnungszeiten

Bodo Rott. Illustrationen zu ›Reineke Fuchs‹

Herrenhaus (Mecklenburger Diele) — täglich geöffnet von 9 bis 16 Uhr
Eintritt frei, Zugang bedingt barrierefrei

Bodo Rott. Gemälde und Bildinstallationen

Herrenhaus (Sammlungen und Salons) — geöffnet für angemeldete Gäste und zur Finissage an Pfingsten am 4. und 5. Juni 2022 von 14 bis 17 Uhr
Zugang barrierefrei

Anmeldung von individuellen Führungen: (030) 23 60 99 99
KUNSTVERMITTLUNG@HERR-HEGENBARTH-BERLIN.DE

Begleitprogramm

Samstag 22. Mai 2021 (ab 15 Uhr)
Ausstellungseröffnung ONLINE
Einführung: Dr. Jörg-Uwe Neumann, Leiter Kunsthalle Rostock
Szenische Lesung aus J. W. Goethes ›Reineke Fuchs‹
Interview mit Bodo Rott, Artist in Residence 2021

Freitag, 2. Juli 2021 (19.30 Uhr)
Festspiele Mecklenburg-Vorpommern: Doric String Quartet
Franz Schubert: Streichquartette Nr. 14, D 810 und Nr. 15 G-Dur, D 887
Karten 43 / 33 €, Ticketshop des Veranstalters, kartenservice@festspiele.de
Besuch der Sammlungen frei, Zugang barrierefrei

Sonntag, 12. September 2021 (14—17 Uhr)
Tag des Offenen Denkmals auf Gut Hohen Luckow
im Herrenhaus
mit Führungen durch die Kunstausstellung und die Terrinen-Sammlung
in der Kirche mit Erläuterungen durch die Gemälderestauratorin Stefanie McBride;
Musik, Kaffeetafel, Besuch der Sammlungen frei, Zugang barrierefrei

Freitag, 17. bis Sonntag, 19. September 2021 (9—17 Uhr)
Tage der offenen Tür (im Rahmen des Landeschampionats im Vielseitigkeitsreiten)
Besuch der Sammlungen frei, Zugang barrierefrei

Samstag, 2. Oktober 2021 (14—18 Uhr)
Erntedank und Midissage zur Ausstellung von Bodo Rott
im Rahmen von Kunst Heute (Schlusstakt zum diesjährigen Mecklenburger Kultursommer)
›Die Reise zum verborgenen Feuer‹ Lesung mit Gun-Dagmar Helke und Bodo Rott; Musik, Kaffeetafel, Besuch der Sammlungen frei, Zugang barrierefrei

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